So kann man sich täuschen.
Eigentlich sollte das ja ein Verriss werden. Denn der Anime ergeht sich in einer fast beispiellosen Aufreihung von abgewetzten Stilmitteln und "Standardsituationen" (sprich: klischeehaften Darstellungen), wo bei jeder einzelnen mir die kalte Kotze hochkommen will. Es braucht vielleicht ein paar Klimmzüge der Selbstüberwindung, um mit der Serie zu Rande zu kommen, dann aber lohnt es sich.
Die ersten zwei, drei Folgen sind schlimm. Nicht weil man ins kalte Wasser geschmissen wird, sondern weil man es mit einigen seltsamen und gewöhnungsbedürftigen Entscheidungen in Sachen Charakter, Charakterdesign und "Screenplay" zu tun hat. Mit stellenweise unsäglicher "Mystery"-Dramaturgie und mit einem ziemlich unbeholfenen Skript. Dann aber nimmt die Geschichte nach einem initialen Schockmoment allmählich Fahrt auf, und der Zuschauer wird mitgerissen von einer gut ausgearbeiteten Story, der er im folgenden vieles verzeiht.
Um ein klein wenig konkreter zu werden:
- Das Charakterdesign ist von irritierender Hässlichkeit mit auffällig disproportionaler Gesichtsgeometrie. Sehr spitznasig, wie Ende des letzten Jahrhunderts.
- Das markante Emo-Verhalten der Charaktere passt dazu perfekt – fast wie ein gezielter Schlag ins Gesicht des Zuschauers. All diese Elemente machen einen auf deep und geben sich ungeheuer bedeutungsschwanger, und außerdem nehme ich das Kindern dieses Alters nicht ab.
- Die Art, wie hier Informationen beiläufig eingeflochten werden, hat etwas unangenehm Didaktisches und scheint aus einem VHS-Kurs "Drama für Anfänger" kopiert. Nämlich indem alle sich gegenseitig und untereinander ihnen bekannte Selbstverständlichkeiten zurufen, als wüssten sie, daß hinter einer unsichtbaren Wand der dumme Zuschauer sitzt, dem sie über Bande ein paar grundsätzliche Informationen mit auf den Weg geben müssen.
- Die Kamera vertieft diese Peinlichkeiten aufs penetranteste, wenn dann auch noch zusätzlich unter unheilvollen Klängen der BGM zu diesen ominösen Nummern auf den Hälsen der Insassen gezoomt wird. Fehlt eigentlich nur noch ein möglichst unübersehbarer KZ-Bezug.
All das zeugt von den angestrengten Bemühungen um Bedeutung, um
deepness. Und man freundet sich allmählich mit dem Gedanken an, es wohl mit einer Art »Attack on Titan« im Kindergartenformat zu tun zu haben. Nun gut, Monster gibt es hier auch.
Monster, die ausschauen wie eine Kreuzung aus "Alien" und Spiegelei, Monster wie man sie auch in »Made in Abyss« erwarten könnte.
Eine Glocke läutet schauerlich den frischen Tag ein. Es kommt allmählich Leben in diese
Verwahranstalt für Kinder, und eine super-genki Nervensäge terrorisiert die schlaftrunkenen Gemüter. Der Alltag dieses Waisenhauses wird vorgestellt und man versucht, erst mal Comedy reinzubringen, um den Zuschauer in Sicherheit zu wiegen und das Gefälle zu späteren tragischen Ereignissen aufzubauen. Soweit normal. Die größeren der Kinder hier wirken aber oft nicht wie Kinder, sondern wie verzwergte Erwachsene. Die Dialoge sind alles andere als altersgerecht. Das erinnert von ferne etwas an die Welt von »Fantastic Children«, und kaum kommt der Gedanke, hört man auch schon ein Solo-Cello den Weg kreuzen. Kann ja eigentlich nur Zufall sein …
Was aber das Verhalten der Kinder und ihre kognitiven Fähigkeiten anbelangt – und das ist mein größter Kritikpunkt an der Serie –, das ist wirklich unglaublich. Unglaublich realitätsfern vor allem. Sich Erwachsenen gegenüber so verstellen und so abgebrüht verhalten zu können, passt einfach nicht zu Elf- oder Zwölfjährigen. Sie agieren und benehmen sich, als seien sie mal eben locker doppelt so alt. Ein Umstand, der ja (ausgerechnet) bei »Made in Abyss« recht gern angeprangert wird, hier aber keine Rolle zu spielen scheint, wenn man die Beiträge hier mal durchgeht.
Mir ist so, als hätte ich bei der Aufzählung der ganzen Klischeehaftigkeiten die Musik vergessen. Die ist, allgemein gesprochen, auch wirklich in Ordnung und passt recht gut zu den Szenen. Dann aber gibt es diese peinlichen Momente, wo zu spüren ist, daß man auch hier mit aller Gewalt Eindruck schinden will und den Zuschauer mit deeeper Orgelmusik behelligt, natürlich mit diesen eeepischen Chören, die auch immer gern genommen werden.
Von ähnlicher Qualität sind bisweilen die Sounds, speziell beim Thema billige Gruseleffekte: wenn direkt nach einer unglaublichen Enthüllung unheilvoller Gewitterschlag einsetzt. Wetter scheint überhaupt nur zur Untermauerung von Schicksalsschlägen und Unterstreichung emotionaler Ausnahmezustände vorhanden zu sein.
Aber gut, dann ignoriert man das einfach tapfer (können andere User hier ja wohl auch) und lässt sich von der Entwicklung des Plots mitreißen. Dann nämlich hat man auch seinen Spaß mit den genialen Eingebungen von Meisterstratege
Norman. Plus ein paar weiterer Kinder, die es teils faustdick hinter den Ohren haben (
Phil). Das ist nicht nur spannend, sondern wirklich ein Riesenspaß, vor allem, wenn es eben nicht
out of character ist.
Für Humor ist in dieser Serie durchaus gesorgt, aber eben in Maßen. Man möchte ja auch nicht unglaubwürdig wirken und das Drama mit Slapstickeinlagen meucheln. Das gelingt sehr gut. Und diese kleinen Einlagen von
Krone, als sie solo auf ihrem Zimmer ganz opernmäßig mal eine Auftrittsarie, die die eigene Boshaftigkeit feiert, mal eine veritable Rachearie aufs Parkett legt – warum auch nicht! Eine schöne Reverenz an andere Kunstformen, die sich seit je theatralisch dem beliebten Gut-Böse-Prinzip widmen.
Überhaupt Krone:
Eine Negerin als Hausmädchen, mit Retro-Frisur und Wulstlippen, ganz wie das Klischee es verlangt? Das nenne ich mutig. Und zum Glück für den Zuschauer haben die fürs Charakterdesign Zuständigen die Entscheidung getroffen, ihren nervösen Augen diese
Kleinstpupillen zu verpassen, damit man auch gleich weiß, daß sie zu den Bösen gehört, ohne daß man sich groß über andere Gründe Gedanken machen müsste.
Fazit (drei zum Preis von einem):
Von selten dämlichen und idiotischen Momenten hin zu absoluter Genialität ist es oft nur ein kleiner Schritt. Den unternimmt man auch gerne mehrmals pro Folge. Zum Beispiel die Abgrenzung des erlaubten Bezirks: Ein Zaun, den man nicht überqueren darf und der deswegen auch nur hüfthoch ist? Das ist natürlich nicht nur eine Einladung an die Kinder, sondern auch der unmissverständliche Wink mit dem Zaunpfahl Richtung Zuschauer, damit der den Sinn dieser Falle resp. des damit verbundenen Charaktertests auch wirklich schnallt. Flankiert wird diese didaktische Maßnahme durch diese
furchtbar zufällige Begegnung mit dem Verbotenen, die mal wieder durch einen unglaublich dämlichen Anlass ausgelöst wird.
Auch von anderen Zitaten wird man hier nicht verschont, wie man an dem
Kalender mit den durchgestrichenen Tagen sehen kann, was wohl die Spannung und die Nerven des Zuschauers bis zum äußersten treiben soll. Später hat die Regie dann noch versucht mir weiszumachen, die Kids seien ohne weiteres in der Lage, sich derartige
Listen über den eigenen "Leistungsstand" anzuschaffen.
Jetzt mal wieder zum Positiven: was mich wirklich beeindruckt hat, war der gelunge Versuch, die Spannung dadurch hoch zu halten, daß oft zwei Stränge, manchmal auch drei, parallel erzählt werden. In dem Zusammenhang seien auch mal die Rückblenden erwähnt, besonders in Ep. 8, die nicht nur vom Timing sehr treffend plaziert sind, sondern ihre starke Wirkung aus dem wunderbaren, wortlosen Zynismus beziehen. Solche wort- und tonlose Flashbacks wie die cineastisch wirkenden Szenenschnitte steigern sich von Folge zu Folge und kratzen mehrmals an der Grenze zur Genialität.
Auch ohne den erstaunlichen allegorischen Überbau im Blick zu haben, kann man die Serie genießen und mit den Kindern mitfiebern, selbst wenn man beim Thema Glaubwürdigkeit deutliche Abstriche vornehmen muss. Dann nämlich hat man seine Freude an einer gelungenen weil auch in sich stimmigen Geschichte, die hier meisterhaft ausgebreitet wird. Auch wenn Skript, Regie und Dramaturgie so manches Mal auf Sandmännchenniveau agieren.