Asane編集
#1Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
[Johann Wolfgang von Goethe]
Lose Betrachtungen zu einem außergewöhnlichen Film [1/2]
Im allgemeinen gelten die Ghibli-Filme – insbesondere diejenigen von Hayao Miyazaki – hierzulande als leichtverdaulich und familienfreundlich, ähnlich denen von der anderen Seite des Globus, die unter dem Label von Disney resp. Pixar erschienen sind. Zumal mit "Majo no Takkyuubin" (aka "Kikis kleiner Lieferservice") Miyazaki ein Werk geschaffen hat, das ein japanisches Kinderbuch als Vorlage hat. Allerdings ist dieses Werk mehr als einfach nur ein Film für Kinder. Oder für die ganze Familie. Weit mehr als bloß ein Versuch, ein weiteres Mal das beliebte Thema "coming of age" auf die Leinwand zu bringen. Unter der harmlos-knuffigen Oberfläche verbergen sich einige Besonderheiten, die über das, was man von derlei Filmen gewohnt ist, deutlich hinausgehen, die auf vielseitige Art Themen und Aspekte aus dem Leben und über das Leben einer angehenden Hexe ansprechen – nie direkt, sondern eher unscheinbar und subtil – und die diesen Film also mühelos in die Gefilde ganz großer Kunst heben.
[Prämisse]
Eine dieser Besonderheiten liegt beispielsweise darin, dass es bei diesem Film um ein Hexenmädchen im wesentlichen gar nicht um Magie geht. Kiki ist die Tochter einer Frau, die man, auf heutige Verhältnisse übertragen, am ehesten als Heilpraktikerin bezeichnen könnte, und sie ist darüber hinaus in diesem Film die einzige Person, die überhaupt von Magie Gebrauch macht. Genauer: von Magie, die nicht nur auf die Fähigkeit, fliegen zu können, beschränkt ist. Gerade das ist Kikis bislang einzige übernatürliche Gabe, die für sie so einfach und so selbstverständlich ist wie für andere Fahrrad fahren.
Sie ist also im Grunde genommen ein ganz normales Mädchen, und da hier Magie nichts damit zu tun hat, mit Zaubersprüchen, Beschwörungen und anderem übernatürlichen Brimborium Probleme wegzuhexen, Feinde zu besiegen und sich das Leben leicht zu machen, sind die Schwierigkeiten, die sich ihr in den Weg stellen und mit denen sie zu kämpfen hat, auch mehr alltäglicher Natur. Wie bei anderen Menschen eben auch.
Viele Menschen haben eine besondere Fähigkeit. Eine Veranlagung, die sie von Beginn an in sich tragen und die, wenn's einigermaßen gut läuft, ihren Lebensweg bestimmt. Manche bringen handwerkliche Fertigkeiten mit (Tombo), andere künstlerische (Ursula) oder überhaupt kreative, und wieder andere haben eine ausgesprochen soziale oder organisatorische Begabung.
Kikis besondere Gabe ist die Magie. Und die Besonderheit dieser Magie liegt darin, dass sie nichts Besonderes ist. Sie wird wie jede andere Befähigung eingesetzt. Zum Nutzen aller wie letztlich auch zum Nutzen der eigenen Person. Und anders als anderswo hat diese Fähigkeit nichts Mysteriöses oder Furchteinflößendes; sie ist kein Werk des Teufels, für das man auf den Scheiterhaufen kommt, und daher nichts, worüber man sich wundern oder weswegen man um sein Leben fürchten oder sonstwie in Panik geraten sollte.
Daher kann Kiki ohne Bedenken im Vorbeiflug den Fischern im Hafen zuwinken, welche fröhlich zurückwinken und sich freuen. So sorgt auch Kikis erstes Auftreten in ihrer Stadt durchaus für einiges Aufsehen, weil unerwartet; größeres Aufhebens davon macht aber keiner der Einwohner, der Türmer nicht, und erst recht nicht die Bäckersfamilie. Man hat schon davon gehört – Zitat Bertha: "Meine Uroma hat mir davon erzählt"; Zitat Tombo: "wie bei meiner Oma" – und kennt das ja …
[Kiki]
Eine angehende Hexe muss im Alter von 13 Jahren die Heimat verlassen und ein Hexenjahr (shugyo - eine Art Praktikumsjahr) in einer Stadt absolvieren, in der noch keine andere Hexe ansässig ist. Anders ausgedrückt: flügge werden und sich ein eigenes Revier suchen. An dieser bedeutsamen Schwelle steht nun auch Kiki. An der Schwelle zum Erwachsenwerden, dem ersten Schritt in die Selbständigkeit. Für heutige Verhältnisse mag man das als unzumutbare Härte, vielleicht als grausam empfinden, aber auch in Europa war es bis vor wenigen Generationen noch üblich, die Kinder in etwa diesem Alter (meist 14) in die Lehre zu geben. Gerne auch auswärts, damit es andere Sitten und Gebräuche kennenlernt. Das Kinderlied "Hänschen klein" erzählt davon.
Dass es eine Stadt sein muss, die noch an keine andere Hexe vergeben ist, mag damit zusammenhängen, dass es nicht zur Bildung einer Clique kommen soll; auch nicht zur Rudelbildung oder einer Konkurrenzsituation, da etwas in dieser Art die Entwicklung von Selbständigkeit und Eigenverantwortung unterlaufen würde. Aus dem gleichen Grund muss sie sich während dieser Zeit mit einem schlichten schwarzen Kleid begnügen. (Also quasi die Schuluniform der Hexenlehrlinge. – Wie man sieht, ist es aber immer noch möglich, dies mit sicherem Gespür und gutem Stilempfinden in einem gewissen Grade etwas aufzupeppen.)
Charakterlich bringt Kiki jedenfalls schon recht gute Voraussetzungen mit. Die ersten Szenen verdeutlichen das sehr plastisch, obwohl sie nicht darauf ausgelegt scheinen, den Zuschauer mit Kikis Naturell und ihrer Gedankenwelt vertraut zu machen. Nun gut, letzten Endes ist das schon auch Sinn und Zweck solcher Szenen. Aber hier werden sie so gestaltet, dass es nicht auffällt; als sei das, was geschieht und vor allem was gesagt wird, einfach nur zufällig und ohne genaues Ziel. Die Schnitte und Kamerawinkel sind so gewählt, dass ein normales Alltagsleben eingefangen wird, ohne inszeniert zu wirken, ohne die typischen Wechsel der Einstellung zwischen den Personen, die gerade reden und deswegen in den Vordergrund gerückt werden.
Solche kurzen Eindrücke genügen vollkommen, um ein Bild von Kiki und ihrem Wesen zu bekommen. Wir erleben sie im Selbstgespräch (oder im Dialog mit Jiji – was aber auf dasselbe hinausläuft), im Verhalten ihren Eltern gegenüber und – vor allem! – gegenüber Außenstehenden wie Dora, der Rheuma-Patientin (auch wenn die eine gute Bekannte des Hauses ist), und jedesmal wechselt das Verhalten von Kiki: von entschlossen und etwas unwirsch über kindliche Herzlichkeit bis zu vorbildlicher Höflichkeit, die aber nichts Erzwungenes oder Erlerntes verrät, sondern sich in spontanen, wohlgewählten Worten äußert und die einfach Teil ihres Naturells zu sein scheint.
Miyazaki dazu:
Vor ihren Eltern verhält sich Kiki wie ein Kind, aber wenn sie alleine ist, hängt sie ernsthaften Gedanken nach. Während sie gleichaltrigen Jungs gegenüber schon mal patzig wird, verhält sie sich respektvoll gegenüber älteren Menschen. Speziell wenn ihnen ihre Bewunderung gilt. Keinesfalls jedoch verhält sie sich berechnend; ihre Reaktionen, ob spontan oder als Ausdruck erlernter guter Manieren, spiegeln die ganze Bandbreite ihrer Persönlichkeit.
Vor allem bei einem Rewatch, wenn man ihre Persönlichkeit und ihre Entwicklung schon kennt, tritt das klar zutage. Aber auch schon zu Beginn ist das zu spüren, wenn man sieht, wie Kiki auf der Wiese liegt, entspannt, scheinbar gedankenverloren, dennoch hochkonzentriert und energisch einen Entschluss fassend. Und es wird auch deutlich, wie enorm erwachsen Kiki hier schon handelt. Denn dazu braucht es schon eine gehörige Portion Selbstbewusstsein, Entschiedenheit und Unabhängigkeit im Denken. Kurz: eine schon weit entwickelte Persönlichkeit.
Noch etwas zu dieser Szene: kaum ein Laut ist zu vernehmen, als Kiki wie geistesabwesend im Gras liegt, nur das Rascheln der Halme im Wind, entferntes Vogelgezwitscher und eine Biene, die sich summend nähert. In diesem Augenblick setzt die Musik ein. Ein leichtes, schwebendes Stück im Dreiertakt (langsamer Walzer), ein Gleichklang im Wiegen der Halme und dem Wiegen der Musik, in welcher Okarina und Mandoline den Ton und die Stimmung vorgeben. So wird nicht nur die stille Serenität der Natur eingefangen, sondern zugleich auch die Ruhe und Ausgeglichenheit von Kiki abgebildet. Wenn sie gewissermaßen ganz "bei sich selbst" ist. An einigen Schlüsselpunkten des Film wird dieses Thema wieder aufscheinen und illustriert dann nicht nur das Geschehen, sondern kommentiert, ja - interpretiert es.
Dennoch muss man sich keine ernstlichen Sorgen um sie machen: ein makelloses Muster an Wohlerzogenheit und Ausbund ekelhafter Strebsamkeit ist Kiki nun auch wieder nicht. Im Grunde nur ein ganz normales Mädchen kurz vor der Pubertät, das recht ähnliche Wünsche und Interessen hat wie andere ihres Alters eben auch. Daher mosert sie auch erst mal rum, als es um das schwarze Kleid geht, hat möglicherweise auch Interesse an altersgemäßem Zeitvertreib, wie das bei der spontan einberufenen Abschiedsparty anklingt, besitzt allerlei Krimskrams, der sich in ihrem Zimmer verteilt, ist sich dabei aber stets im klaren, was in ihrem Leben gerade Priorität hat.
Eine der faszinierenden Seiten des Film liegt darin, auf welche Art all die Situationen, in die Kiki gerät, genutzt werden, um das Bild einer tiefen und sehr vielschichtigen Persönlichkeit zu entwerfen, um einen tiefen Blick in ihr Seelenleben gewähren; und wie es gelingt, dem Zuschauer eine Person vor Augen zu führen, die im Grunde völlig natürlich reagiert und in der der Zuschauer sich wieder erkennt.
In vielen unscheinbaren Momenten geschieht dies. Es geschieht, ohne dahinter eine Absicht erkennen zu lassen, sei's im Wechsel der Kameraperspektive (es lohnt sich, mal darauf zu achten, wann die Kamera Kikis Ich-Perspektive einnimmt), sei's in den ganz natürlichen Dialogen, sei's in den vielen wortlosen Szenen, in denen Gestik und Mimik für sich sprechen. In all solchen Kleinigkeiten spiegelt sich eine Persönlichkeit, mit der der Zuschauer sympathisieren kann, nicht nur weil er selber die Schwierigkeiten kennt, denen sich Kiki ausgesetzt sieht (und die weitaus größer und komplexer sind, als man sich das bei einem "zum ersten Mal auf eigenen Beinen stehen" überhaupt vorstellt), sondern weil dies sich eben an den kleinen Dingen des Lebens manifestiert und dabei nicht das ganz große Drama abzieht; – an Dingen, die man als Zuschauer leicht übersehen kann und die doch das Charakeristische unterstreichen. Recht oft sind das Szenen, die absolut nichts zur Entwicklung der Handlung beitragen. Wortlose Szenen, die für sich selbst stehen und die sich selbst erklären.
Was Kiki allemal zugute kommt, ist das, was Eltern ihren Kindern oft unter großen Mühen einzuimpfen suchen: Anstand und gutes Benehmen. Zunächst sichtlich unsicher und etwas formelhaft, agiert sie späterhin in der Fremde merklich selbstbewusster und innerlich gelöster. Und dort in der Fremde hilft ihr dieses Gespür für gutes Benehmen für den Anfang über einige schwierige Situationen hinweg. Dies so darzustellen, ohne aufdringlich die pädagogisch wertvolle Message gleich mit im Boot zu haben – das gehört zu den ganz großen Stärken des Films.
Was sich also in all diesen Kleinigkeiten zeigt, ist vor allem eines: das Menschliche.
Und so nebenbei: ein geringes Maß an Verschlagenheit macht sie allemal sympathischer. Sei's in der Gewitterszene ("wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen") oder als sie – gerade erst in der Stadt angekommen und ungebührlich für Aufsehen sorgend – sich bei erstbester Gelegenheit aus der Verantwortung stiehlt, um nicht weiter vom Polizisten zur Rede gestellt zu werden, der sie wegen "Gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr" drankriegen will. Wie auch in der kurzen Szene, als sie beim Wiegen des Pakets ein klein wenig nachhilft.
[Nachtflug]
Nach dem nächtlichen Abflug vor versammelter Mannschaft erleben wir Kiki zum ersten Mal so richtig in Aktion. Dies gibt der Regie Gelegenheit, einige Facetten ihres Charakters, die bisher nur zart angedeutet worden sind, etwas plastischer auszugestalten. Was ihre technischen Fertigkeiten betrifft, wird hier die eingangs angesprochene Parallele von Besen fliegen und Fahrrad fahren erstmals so richtig sichtbar. Einem grenzwertig desaströsen Start, bei dem es einige Zeit dauert, bis sie ihr Gleichgewicht gefunden hat, folgt eine ruhige und unspektakuläre Geradeausfahrt – zu ruhig für Kikis Geschmack, und so fängt sie an auszutesten, ob das auch freihändig geht.
Aber auch einige andere kleine Details bei der Begegnung mit einer Senpai sprechen Bände, wie etwa das leichte, unkontrollierte Absacken, als sie gerade ihr Radio ausschaltet. Gerade diese Begegnung ist reich an beredten Einzelheiten. Die freundliche Offenheit und Neugierde Kikis trifft auf eine selbstbewusste und etwas distinguierte Person, die auf den ersten Blick ein wenig blasiert und überheblich wirken mag. Dabei ist schwer auszumachen, ob sie sich an Kikis Verhalten einfach nur stört oder ob es sie mehr amüsiert. Unterzieht man diese Szene einem zweiten Blick, ohne ein gut/böse oder sympathsich/unsympathisch im Hinterkopf zu haben, wird man wohl zu dem Schluss gelangen, dass sie Kiki wohl mit einigem Recht kritisch beäugt: nicht nur, dass sie sich durch das Gedudel gestört fühlt, hat sie auch weit eher einen Begriff von Verkehrssicherheit. Denn da, wo sich bei Kiki das Radio befindet, hat sie stattdessen ein Positionslicht installiert. Und als sich im Gespräch herausstellt, wie wenig Kiki eine klare Vorstellung davon hat, was sie erwartet und was sie mit ihren Fähigkeiten anfangen will, steigert das nicht gerade ihr Wohlwollen, ist für sie aber auch noch lange kein Anlass für Häme oder Geringschätzung. So bleibt sie zwar Kiki gegenüber etwas reserviert, ist aber dennoch von aufrichtiger Freundlichkeit und verabschiedet sich mit einem netten "anata mo ganbatte ne" (na dann, alles Gute!).
Auch in dieser Szene zeigt sich Jiji als die innere Stimme von Kiki, da er meist eine Gegenposition wie in einem inneren Monolog vertritt, was späterhin noch einige Male der Fall sein wird. Besonders goldig übrigens, wie sich die ganze Zeit über Jiji und die Katze der angehenden Wahrsagerin unablässig taxieren …
Was aber durchweg in diesen Szenen dominiert, ist der jugendlich unreflektierte und gnadenlose Optimismus, der Kiki zu eigen ist, sowie die kribbelnde Euphorie, die einen befällt, wenn man zum ersten Mal allein auf großer Fahrt ist, wie etwa beim ersten Trip mit nagelneuem Führerschein. Diese kindliche, unverstellte Unbekümmertheit löst teils Befremden, dann aber auch Wohlwollen aus wie eben bei der nächlichen Begegnung. Doch genau das ist es, was Kiki so manche fremde Türen öffnen wird. Daher lässt sie sich gerne vom Gefühl des Augenblicks überwältigen, als sie in aufgeregter Hochstimmung am nächsten Morgen die Nase in den Fahrtwind hält.
[In der Fremde]
Gerade in Kiriko angekommen, eröffnet sich Kiki eine lichte, heitere Welt als Mischung aus mediterraner Leichtigkeit und skandinavischer Luzidität. Was sich vor allem auch in der Musik niederschlägt. Hier bekommen wir die für den Soundtrack so typische breite Palette südländischen Lebensgefühls zu hören, von Fandango über Tarantella bis hin zum Tango.
Der Ort lässt sich beschreiben als eine (im ursprünglichen Wortsinn) ideale Stadt in einer idealen Zeit, Mitte des vorigen Jahrhunderts; einer Zeit, in der kein Weltkrieg stattgefunden hat. Städtebaulich stark beeinflusst von Stockholm und Visby, den Städten, die das Ghibli-Team bereist hat, um die Möglichkeit einer Anime-Umsetzung von "Pippi Langstrumpf" auszuloten. Grob lässt sich das den 40er Jahren zuordnen, mit gewissen Lizenzen und anderen künstlerischen Freiheiten. Die aber durchaus so gewollt sind. So fällt in der kleinen Gesellschaft bei Kikis Abschied das Wort "Disco" (bezeichnenderweise wird nicht von Jungs gesprochen), und einige andere technische Details scheinen eher den 60er Jahren entnommen zu sein. Auf den englischsprachigen Anime-Sites ist darüber hinaus noch von Walkman und Mikrowelle die Rede. Bei der Mikrowelle dürfte es sich um den elekrischen Ofen der alten Dame handeln, der ausgefallen ist; und sollte jemand in diesem Film einen Walkman sichten, so bitte ich um einen Hinweis, wo das denn sein soll.
Auch in anderen Dingen gestattet man sich etliche Freiheiten, die jedoch vor allem dem dramaturgischen Konzept geschuldet sind. Dass daher banale Dinge wie Anmeldung eines Gewerbes und eines Telefonanschlusses großzügig übergangen werden, sei mal ignoriert. Auch dass die Post keine Einwände gegen Kikis Treiben äußert, wie auch Finanz- und Einwohnermeldeämter noch nicht erfunden sind, nimmt man wohlwollend zur Kenntnis und stört sich nicht weiter dran; soviel widerliche Realitätsnähe hätte dem Film auch nicht gut zu Gesicht gestanden. Allein dass Kiki sich von den Ordnungshütern eine Strafpredigt anhören muss, weil sie beinahe einen Unfall verursacht hat, ist schon genug an stellvertretender Realitätsnähe und reicht vollkommen aus als Nachweis eines funktionierenden Gemeinwesens.
Daher zieht sich Kiki erstmal aufs Formelle zurück, als sie in die fremde Stadt kommt, und besinnt sich auf ihre Manieren. Kinder können unglaublich viel, wenn sie wirklich wollen und wenn's drauf ankommt. Das ist bei ihr nicht grundsätzlich anders, abgesehen von dem Umstand, dass sie sich nicht dazu zwingen muss, da es ihr gewissermaßen im Blut liegt. Und doch mündet ihr erster großer Auftritt in einem Debakel.
Was sie an diesem ersten Tag erfährt, ist Stadtleben auf die harte Tour. Und ein erstes Gefühl dafür bekommen, was es bedeutet, in einer fremden Umgebung auf sich allein gestellt zu sein. Dieser völlig neue Kosmos sowie die mangelnde Erfahrung lassen in ihr das Gefühl aufkeimen, diese Stadt sei kalt, die Leute unfreundlich und sie nicht willkommen. Das stimmt natürlich nicht, wie der Zuschauer anhand der Bilder leicht feststellen kann. Jiji (als die Projektion der "anderen Seite" ihres inneren Ichs) bestärkt sie darin und möchte sie zum Weiterreisen überreden, worauf sie den Entschluss fasst, es doch erst mal richtig zu versuchen.
In solchen Szenen findet Miyazaki genau den richtigen Weg zwischen Drama und Comedy, zwischen Heiterkeit und Niedergeschlagenheit. Wie in der Hotelszene, wo der Zuschauer hautnah spüren kann, wie Kiki ihren ganzen Mut zusammennimmt, das noble Gebäude betritt und sich dennoch furchtlos und mit einem gewissen inneren Stolz vor dem Portier aufbaut. Dessen doofes Nachfragen sie, weil der partout nicht verstehen will, mit einem knappen und vielleicht etwas zu schnippischen "kekkou desu!" entgegnet (das Deutsche hat's mit "Vergessen Sie's" ziemlich gut getroffen) und erhobenen Hauptes den Ort ihrer nunmehr zweiten Niederlage hinter sich lässt.
Hier also erfährt der Zuschauer beides: Kikis allgemeinen Gemütszustand samt ihren Selbstzweifeln, gemischt mit dem Gefühl des Fremdseins und der Verlassenheit, und auf der anderen Seite die unaufdringlichen Momente genuin komischer Situationen wie eben dieser: Kiki in ihrem schlichten Gewand samt Besen und Katze in scharfem Kontrast zu dem gediegenen Ambiente eines Stadthotels.
Diesen vermehrten Frust, gepaart mit wachsender Unsicherheit und Mutlosigkeit, zu illustrieren, ist der Stadtpark natürlich genau der richtige Ort. Auch hier erfährt sie, und der Zuschauer vielleicht noch stärker, den harten Kontrast: eine Fremde, die nicht einmal weiß, wo sie die nächste Nacht verbringen soll, unter all den fröhlichen, lebhaften, geschäftigen Menschen, die den Park bevölkern und unter denen Kiki am wenigsten auffällt. In dieser kleinen Szene bekommt man eine Vorstellung davon, wie unsicher und prekär ihre Lage derzeit ist. Diese sehr gemischten und unterschiedlichen Zustände den Zuschauer förmlich miterleben zu lassen, das ist in erster Linie das Werk einer genialen, weil sorgfältigen Regie.
So gibt Kiki ihrem Unbehagen nach, als sie das Polizeiauto hereinfahren sieht, und macht sich auf, weiterhin ohne Ziel durch die Stadt zu wandern. Bis sie auf einem Hügel an einem Mäuerchen neben einer Bäckerei anlangt. – Wann genau hat sie eigentlich das letzte Mal gelächelt?
つづく
Erwirb es, um es zu besitzen.
[Johann Wolfgang von Goethe]
Lose Betrachtungen zu einem außergewöhnlichen Film [1/2]
Im allgemeinen gelten die Ghibli-Filme – insbesondere diejenigen von Hayao Miyazaki – hierzulande als leichtverdaulich und familienfreundlich, ähnlich denen von der anderen Seite des Globus, die unter dem Label von Disney resp. Pixar erschienen sind. Zumal mit "Majo no Takkyuubin" (aka "Kikis kleiner Lieferservice") Miyazaki ein Werk geschaffen hat, das ein japanisches Kinderbuch als Vorlage hat. Allerdings ist dieses Werk mehr als einfach nur ein Film für Kinder. Oder für die ganze Familie. Weit mehr als bloß ein Versuch, ein weiteres Mal das beliebte Thema "coming of age" auf die Leinwand zu bringen. Unter der harmlos-knuffigen Oberfläche verbergen sich einige Besonderheiten, die über das, was man von derlei Filmen gewohnt ist, deutlich hinausgehen, die auf vielseitige Art Themen und Aspekte aus dem Leben und über das Leben einer angehenden Hexe ansprechen – nie direkt, sondern eher unscheinbar und subtil – und die diesen Film also mühelos in die Gefilde ganz großer Kunst heben.
[Prämisse]
Eine dieser Besonderheiten liegt beispielsweise darin, dass es bei diesem Film um ein Hexenmädchen im wesentlichen gar nicht um Magie geht. Kiki ist die Tochter einer Frau, die man, auf heutige Verhältnisse übertragen, am ehesten als Heilpraktikerin bezeichnen könnte, und sie ist darüber hinaus in diesem Film die einzige Person, die überhaupt von Magie Gebrauch macht. Genauer: von Magie, die nicht nur auf die Fähigkeit, fliegen zu können, beschränkt ist. Gerade das ist Kikis bislang einzige übernatürliche Gabe, die für sie so einfach und so selbstverständlich ist wie für andere Fahrrad fahren.
Sie ist also im Grunde genommen ein ganz normales Mädchen, und da hier Magie nichts damit zu tun hat, mit Zaubersprüchen, Beschwörungen und anderem übernatürlichen Brimborium Probleme wegzuhexen, Feinde zu besiegen und sich das Leben leicht zu machen, sind die Schwierigkeiten, die sich ihr in den Weg stellen und mit denen sie zu kämpfen hat, auch mehr alltäglicher Natur. Wie bei anderen Menschen eben auch.
Viele Menschen haben eine besondere Fähigkeit. Eine Veranlagung, die sie von Beginn an in sich tragen und die, wenn's einigermaßen gut läuft, ihren Lebensweg bestimmt. Manche bringen handwerkliche Fertigkeiten mit (Tombo), andere künstlerische (Ursula) oder überhaupt kreative, und wieder andere haben eine ausgesprochen soziale oder organisatorische Begabung.
Kikis besondere Gabe ist die Magie. Und die Besonderheit dieser Magie liegt darin, dass sie nichts Besonderes ist. Sie wird wie jede andere Befähigung eingesetzt. Zum Nutzen aller wie letztlich auch zum Nutzen der eigenen Person. Und anders als anderswo hat diese Fähigkeit nichts Mysteriöses oder Furchteinflößendes; sie ist kein Werk des Teufels, für das man auf den Scheiterhaufen kommt, und daher nichts, worüber man sich wundern oder weswegen man um sein Leben fürchten oder sonstwie in Panik geraten sollte.
Daher kann Kiki ohne Bedenken im Vorbeiflug den Fischern im Hafen zuwinken, welche fröhlich zurückwinken und sich freuen. So sorgt auch Kikis erstes Auftreten in ihrer Stadt durchaus für einiges Aufsehen, weil unerwartet; größeres Aufhebens davon macht aber keiner der Einwohner, der Türmer nicht, und erst recht nicht die Bäckersfamilie. Man hat schon davon gehört – Zitat Bertha: "Meine Uroma hat mir davon erzählt"; Zitat Tombo: "wie bei meiner Oma" – und kennt das ja …
[Kiki]
Eine angehende Hexe muss im Alter von 13 Jahren die Heimat verlassen und ein Hexenjahr (shugyo - eine Art Praktikumsjahr) in einer Stadt absolvieren, in der noch keine andere Hexe ansässig ist. Anders ausgedrückt: flügge werden und sich ein eigenes Revier suchen. An dieser bedeutsamen Schwelle steht nun auch Kiki. An der Schwelle zum Erwachsenwerden, dem ersten Schritt in die Selbständigkeit. Für heutige Verhältnisse mag man das als unzumutbare Härte, vielleicht als grausam empfinden, aber auch in Europa war es bis vor wenigen Generationen noch üblich, die Kinder in etwa diesem Alter (meist 14) in die Lehre zu geben. Gerne auch auswärts, damit es andere Sitten und Gebräuche kennenlernt. Das Kinderlied "Hänschen klein" erzählt davon.
Dass es eine Stadt sein muss, die noch an keine andere Hexe vergeben ist, mag damit zusammenhängen, dass es nicht zur Bildung einer Clique kommen soll; auch nicht zur Rudelbildung oder einer Konkurrenzsituation, da etwas in dieser Art die Entwicklung von Selbständigkeit und Eigenverantwortung unterlaufen würde. Aus dem gleichen Grund muss sie sich während dieser Zeit mit einem schlichten schwarzen Kleid begnügen. (Also quasi die Schuluniform der Hexenlehrlinge. – Wie man sieht, ist es aber immer noch möglich, dies mit sicherem Gespür und gutem Stilempfinden in einem gewissen Grade etwas aufzupeppen.)
Charakterlich bringt Kiki jedenfalls schon recht gute Voraussetzungen mit. Die ersten Szenen verdeutlichen das sehr plastisch, obwohl sie nicht darauf ausgelegt scheinen, den Zuschauer mit Kikis Naturell und ihrer Gedankenwelt vertraut zu machen. Nun gut, letzten Endes ist das schon auch Sinn und Zweck solcher Szenen. Aber hier werden sie so gestaltet, dass es nicht auffällt; als sei das, was geschieht und vor allem was gesagt wird, einfach nur zufällig und ohne genaues Ziel. Die Schnitte und Kamerawinkel sind so gewählt, dass ein normales Alltagsleben eingefangen wird, ohne inszeniert zu wirken, ohne die typischen Wechsel der Einstellung zwischen den Personen, die gerade reden und deswegen in den Vordergrund gerückt werden.
Solche kurzen Eindrücke genügen vollkommen, um ein Bild von Kiki und ihrem Wesen zu bekommen. Wir erleben sie im Selbstgespräch (oder im Dialog mit Jiji – was aber auf dasselbe hinausläuft), im Verhalten ihren Eltern gegenüber und – vor allem! – gegenüber Außenstehenden wie Dora, der Rheuma-Patientin (auch wenn die eine gute Bekannte des Hauses ist), und jedesmal wechselt das Verhalten von Kiki: von entschlossen und etwas unwirsch über kindliche Herzlichkeit bis zu vorbildlicher Höflichkeit, die aber nichts Erzwungenes oder Erlerntes verrät, sondern sich in spontanen, wohlgewählten Worten äußert und die einfach Teil ihres Naturells zu sein scheint.
Miyazaki dazu:
Vor ihren Eltern verhält sich Kiki wie ein Kind, aber wenn sie alleine ist, hängt sie ernsthaften Gedanken nach. Während sie gleichaltrigen Jungs gegenüber schon mal patzig wird, verhält sie sich respektvoll gegenüber älteren Menschen. Speziell wenn ihnen ihre Bewunderung gilt. Keinesfalls jedoch verhält sie sich berechnend; ihre Reaktionen, ob spontan oder als Ausdruck erlernter guter Manieren, spiegeln die ganze Bandbreite ihrer Persönlichkeit.
Vor allem bei einem Rewatch, wenn man ihre Persönlichkeit und ihre Entwicklung schon kennt, tritt das klar zutage. Aber auch schon zu Beginn ist das zu spüren, wenn man sieht, wie Kiki auf der Wiese liegt, entspannt, scheinbar gedankenverloren, dennoch hochkonzentriert und energisch einen Entschluss fassend. Und es wird auch deutlich, wie enorm erwachsen Kiki hier schon handelt. Denn dazu braucht es schon eine gehörige Portion Selbstbewusstsein, Entschiedenheit und Unabhängigkeit im Denken. Kurz: eine schon weit entwickelte Persönlichkeit.
Noch etwas zu dieser Szene: kaum ein Laut ist zu vernehmen, als Kiki wie geistesabwesend im Gras liegt, nur das Rascheln der Halme im Wind, entferntes Vogelgezwitscher und eine Biene, die sich summend nähert. In diesem Augenblick setzt die Musik ein. Ein leichtes, schwebendes Stück im Dreiertakt (langsamer Walzer), ein Gleichklang im Wiegen der Halme und dem Wiegen der Musik, in welcher Okarina und Mandoline den Ton und die Stimmung vorgeben. So wird nicht nur die stille Serenität der Natur eingefangen, sondern zugleich auch die Ruhe und Ausgeglichenheit von Kiki abgebildet. Wenn sie gewissermaßen ganz "bei sich selbst" ist. An einigen Schlüsselpunkten des Film wird dieses Thema wieder aufscheinen und illustriert dann nicht nur das Geschehen, sondern kommentiert, ja - interpretiert es.
Dennoch muss man sich keine ernstlichen Sorgen um sie machen: ein makelloses Muster an Wohlerzogenheit und Ausbund ekelhafter Strebsamkeit ist Kiki nun auch wieder nicht. Im Grunde nur ein ganz normales Mädchen kurz vor der Pubertät, das recht ähnliche Wünsche und Interessen hat wie andere ihres Alters eben auch. Daher mosert sie auch erst mal rum, als es um das schwarze Kleid geht, hat möglicherweise auch Interesse an altersgemäßem Zeitvertreib, wie das bei der spontan einberufenen Abschiedsparty anklingt, besitzt allerlei Krimskrams, der sich in ihrem Zimmer verteilt, ist sich dabei aber stets im klaren, was in ihrem Leben gerade Priorität hat.
Eine der faszinierenden Seiten des Film liegt darin, auf welche Art all die Situationen, in die Kiki gerät, genutzt werden, um das Bild einer tiefen und sehr vielschichtigen Persönlichkeit zu entwerfen, um einen tiefen Blick in ihr Seelenleben gewähren; und wie es gelingt, dem Zuschauer eine Person vor Augen zu führen, die im Grunde völlig natürlich reagiert und in der der Zuschauer sich wieder erkennt.
In vielen unscheinbaren Momenten geschieht dies. Es geschieht, ohne dahinter eine Absicht erkennen zu lassen, sei's im Wechsel der Kameraperspektive (es lohnt sich, mal darauf zu achten, wann die Kamera Kikis Ich-Perspektive einnimmt), sei's in den ganz natürlichen Dialogen, sei's in den vielen wortlosen Szenen, in denen Gestik und Mimik für sich sprechen. In all solchen Kleinigkeiten spiegelt sich eine Persönlichkeit, mit der der Zuschauer sympathisieren kann, nicht nur weil er selber die Schwierigkeiten kennt, denen sich Kiki ausgesetzt sieht (und die weitaus größer und komplexer sind, als man sich das bei einem "zum ersten Mal auf eigenen Beinen stehen" überhaupt vorstellt), sondern weil dies sich eben an den kleinen Dingen des Lebens manifestiert und dabei nicht das ganz große Drama abzieht; – an Dingen, die man als Zuschauer leicht übersehen kann und die doch das Charakeristische unterstreichen. Recht oft sind das Szenen, die absolut nichts zur Entwicklung der Handlung beitragen. Wortlose Szenen, die für sich selbst stehen und die sich selbst erklären.
Was Kiki allemal zugute kommt, ist das, was Eltern ihren Kindern oft unter großen Mühen einzuimpfen suchen: Anstand und gutes Benehmen. Zunächst sichtlich unsicher und etwas formelhaft, agiert sie späterhin in der Fremde merklich selbstbewusster und innerlich gelöster. Und dort in der Fremde hilft ihr dieses Gespür für gutes Benehmen für den Anfang über einige schwierige Situationen hinweg. Dies so darzustellen, ohne aufdringlich die pädagogisch wertvolle Message gleich mit im Boot zu haben – das gehört zu den ganz großen Stärken des Films.
Was sich also in all diesen Kleinigkeiten zeigt, ist vor allem eines: das Menschliche.
Und so nebenbei: ein geringes Maß an Verschlagenheit macht sie allemal sympathischer. Sei's in der Gewitterszene ("wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen") oder als sie – gerade erst in der Stadt angekommen und ungebührlich für Aufsehen sorgend – sich bei erstbester Gelegenheit aus der Verantwortung stiehlt, um nicht weiter vom Polizisten zur Rede gestellt zu werden, der sie wegen "Gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr" drankriegen will. Wie auch in der kurzen Szene, als sie beim Wiegen des Pakets ein klein wenig nachhilft.
[Nachtflug]
Nach dem nächtlichen Abflug vor versammelter Mannschaft erleben wir Kiki zum ersten Mal so richtig in Aktion. Dies gibt der Regie Gelegenheit, einige Facetten ihres Charakters, die bisher nur zart angedeutet worden sind, etwas plastischer auszugestalten. Was ihre technischen Fertigkeiten betrifft, wird hier die eingangs angesprochene Parallele von Besen fliegen und Fahrrad fahren erstmals so richtig sichtbar. Einem grenzwertig desaströsen Start, bei dem es einige Zeit dauert, bis sie ihr Gleichgewicht gefunden hat, folgt eine ruhige und unspektakuläre Geradeausfahrt – zu ruhig für Kikis Geschmack, und so fängt sie an auszutesten, ob das auch freihändig geht.
Aber auch einige andere kleine Details bei der Begegnung mit einer Senpai sprechen Bände, wie etwa das leichte, unkontrollierte Absacken, als sie gerade ihr Radio ausschaltet. Gerade diese Begegnung ist reich an beredten Einzelheiten. Die freundliche Offenheit und Neugierde Kikis trifft auf eine selbstbewusste und etwas distinguierte Person, die auf den ersten Blick ein wenig blasiert und überheblich wirken mag. Dabei ist schwer auszumachen, ob sie sich an Kikis Verhalten einfach nur stört oder ob es sie mehr amüsiert. Unterzieht man diese Szene einem zweiten Blick, ohne ein gut/böse oder sympathsich/unsympathisch im Hinterkopf zu haben, wird man wohl zu dem Schluss gelangen, dass sie Kiki wohl mit einigem Recht kritisch beäugt: nicht nur, dass sie sich durch das Gedudel gestört fühlt, hat sie auch weit eher einen Begriff von Verkehrssicherheit. Denn da, wo sich bei Kiki das Radio befindet, hat sie stattdessen ein Positionslicht installiert. Und als sich im Gespräch herausstellt, wie wenig Kiki eine klare Vorstellung davon hat, was sie erwartet und was sie mit ihren Fähigkeiten anfangen will, steigert das nicht gerade ihr Wohlwollen, ist für sie aber auch noch lange kein Anlass für Häme oder Geringschätzung. So bleibt sie zwar Kiki gegenüber etwas reserviert, ist aber dennoch von aufrichtiger Freundlichkeit und verabschiedet sich mit einem netten "anata mo ganbatte ne" (na dann, alles Gute!).
Auch in dieser Szene zeigt sich Jiji als die innere Stimme von Kiki, da er meist eine Gegenposition wie in einem inneren Monolog vertritt, was späterhin noch einige Male der Fall sein wird. Besonders goldig übrigens, wie sich die ganze Zeit über Jiji und die Katze der angehenden Wahrsagerin unablässig taxieren …
Was aber durchweg in diesen Szenen dominiert, ist der jugendlich unreflektierte und gnadenlose Optimismus, der Kiki zu eigen ist, sowie die kribbelnde Euphorie, die einen befällt, wenn man zum ersten Mal allein auf großer Fahrt ist, wie etwa beim ersten Trip mit nagelneuem Führerschein. Diese kindliche, unverstellte Unbekümmertheit löst teils Befremden, dann aber auch Wohlwollen aus wie eben bei der nächlichen Begegnung. Doch genau das ist es, was Kiki so manche fremde Türen öffnen wird. Daher lässt sie sich gerne vom Gefühl des Augenblicks überwältigen, als sie in aufgeregter Hochstimmung am nächsten Morgen die Nase in den Fahrtwind hält.
[In der Fremde]
Gerade in Kiriko angekommen, eröffnet sich Kiki eine lichte, heitere Welt als Mischung aus mediterraner Leichtigkeit und skandinavischer Luzidität. Was sich vor allem auch in der Musik niederschlägt. Hier bekommen wir die für den Soundtrack so typische breite Palette südländischen Lebensgefühls zu hören, von Fandango über Tarantella bis hin zum Tango.
Der Ort lässt sich beschreiben als eine (im ursprünglichen Wortsinn) ideale Stadt in einer idealen Zeit, Mitte des vorigen Jahrhunderts; einer Zeit, in der kein Weltkrieg stattgefunden hat. Städtebaulich stark beeinflusst von Stockholm und Visby, den Städten, die das Ghibli-Team bereist hat, um die Möglichkeit einer Anime-Umsetzung von "Pippi Langstrumpf" auszuloten. Grob lässt sich das den 40er Jahren zuordnen, mit gewissen Lizenzen und anderen künstlerischen Freiheiten. Die aber durchaus so gewollt sind. So fällt in der kleinen Gesellschaft bei Kikis Abschied das Wort "Disco" (bezeichnenderweise wird nicht von Jungs gesprochen), und einige andere technische Details scheinen eher den 60er Jahren entnommen zu sein. Auf den englischsprachigen Anime-Sites ist darüber hinaus noch von Walkman und Mikrowelle die Rede. Bei der Mikrowelle dürfte es sich um den elekrischen Ofen der alten Dame handeln, der ausgefallen ist; und sollte jemand in diesem Film einen Walkman sichten, so bitte ich um einen Hinweis, wo das denn sein soll.
Auch in anderen Dingen gestattet man sich etliche Freiheiten, die jedoch vor allem dem dramaturgischen Konzept geschuldet sind. Dass daher banale Dinge wie Anmeldung eines Gewerbes und eines Telefonanschlusses großzügig übergangen werden, sei mal ignoriert. Auch dass die Post keine Einwände gegen Kikis Treiben äußert, wie auch Finanz- und Einwohnermeldeämter noch nicht erfunden sind, nimmt man wohlwollend zur Kenntnis und stört sich nicht weiter dran; soviel widerliche Realitätsnähe hätte dem Film auch nicht gut zu Gesicht gestanden. Allein dass Kiki sich von den Ordnungshütern eine Strafpredigt anhören muss, weil sie beinahe einen Unfall verursacht hat, ist schon genug an stellvertretender Realitätsnähe und reicht vollkommen aus als Nachweis eines funktionierenden Gemeinwesens.
Daher zieht sich Kiki erstmal aufs Formelle zurück, als sie in die fremde Stadt kommt, und besinnt sich auf ihre Manieren. Kinder können unglaublich viel, wenn sie wirklich wollen und wenn's drauf ankommt. Das ist bei ihr nicht grundsätzlich anders, abgesehen von dem Umstand, dass sie sich nicht dazu zwingen muss, da es ihr gewissermaßen im Blut liegt. Und doch mündet ihr erster großer Auftritt in einem Debakel.
Was sie an diesem ersten Tag erfährt, ist Stadtleben auf die harte Tour. Und ein erstes Gefühl dafür bekommen, was es bedeutet, in einer fremden Umgebung auf sich allein gestellt zu sein. Dieser völlig neue Kosmos sowie die mangelnde Erfahrung lassen in ihr das Gefühl aufkeimen, diese Stadt sei kalt, die Leute unfreundlich und sie nicht willkommen. Das stimmt natürlich nicht, wie der Zuschauer anhand der Bilder leicht feststellen kann. Jiji (als die Projektion der "anderen Seite" ihres inneren Ichs) bestärkt sie darin und möchte sie zum Weiterreisen überreden, worauf sie den Entschluss fasst, es doch erst mal richtig zu versuchen.
In solchen Szenen findet Miyazaki genau den richtigen Weg zwischen Drama und Comedy, zwischen Heiterkeit und Niedergeschlagenheit. Wie in der Hotelszene, wo der Zuschauer hautnah spüren kann, wie Kiki ihren ganzen Mut zusammennimmt, das noble Gebäude betritt und sich dennoch furchtlos und mit einem gewissen inneren Stolz vor dem Portier aufbaut. Dessen doofes Nachfragen sie, weil der partout nicht verstehen will, mit einem knappen und vielleicht etwas zu schnippischen "kekkou desu!" entgegnet (das Deutsche hat's mit "Vergessen Sie's" ziemlich gut getroffen) und erhobenen Hauptes den Ort ihrer nunmehr zweiten Niederlage hinter sich lässt.
Hier also erfährt der Zuschauer beides: Kikis allgemeinen Gemütszustand samt ihren Selbstzweifeln, gemischt mit dem Gefühl des Fremdseins und der Verlassenheit, und auf der anderen Seite die unaufdringlichen Momente genuin komischer Situationen wie eben dieser: Kiki in ihrem schlichten Gewand samt Besen und Katze in scharfem Kontrast zu dem gediegenen Ambiente eines Stadthotels.
Diesen vermehrten Frust, gepaart mit wachsender Unsicherheit und Mutlosigkeit, zu illustrieren, ist der Stadtpark natürlich genau der richtige Ort. Auch hier erfährt sie, und der Zuschauer vielleicht noch stärker, den harten Kontrast: eine Fremde, die nicht einmal weiß, wo sie die nächste Nacht verbringen soll, unter all den fröhlichen, lebhaften, geschäftigen Menschen, die den Park bevölkern und unter denen Kiki am wenigsten auffällt. In dieser kleinen Szene bekommt man eine Vorstellung davon, wie unsicher und prekär ihre Lage derzeit ist. Diese sehr gemischten und unterschiedlichen Zustände den Zuschauer förmlich miterleben zu lassen, das ist in erster Linie das Werk einer genialen, weil sorgfältigen Regie.
So gibt Kiki ihrem Unbehagen nach, als sie das Polizeiauto hereinfahren sieht, und macht sich auf, weiterhin ohne Ziel durch die Stadt zu wandern. Bis sie auf einem Hügel an einem Mäuerchen neben einer Bäckerei anlangt. – Wann genau hat sie eigentlich das letzte Mal gelächelt?
つづく
投稿の最終更新日時は 16.12.2023 02:56 です。